Pubertät 2000. PacMan, Schimpansen und Falco. Wir waren jung und primitiv, aber glücklich. Brüste, hihi.
Zu meinem 12. Geburtstag holte mich mein Onkel in seiner Mittagspause ab und fuhr mit mir zum kleinen, seit Generationen familiengeführten und angesehenen Elektrofachmarkt in der Innenstadt, der ein recht kleines, recht teures, aber recht ausgewähltes CD-Angebot für seine recht treuen Kunden bereit hielt (die im Laufe der kommenden Jahre wegstarben oder zur unpersönlichen, aber preiswerteren Konkurrenz überliefen und somit einige Jahre später am Tod des kleinen, seit Generationen familiengeführten und angesehenen Elektrofachmarkts in der Innenstadt mitverantwortlich waren). [Satzende]
Der junge Verkäufer mit Baggie-Pants und flippiger Frisur – dunkelwasserstoffblond gefärbte Haare, zu Spikes hochgegeelt, Typ „ich lasse nicht zu, dass die 90er aussterben„ – fragte mich, welches Album ich den haben wolle.
„Das neue von der Bloodhoundgang“, entgegnete ich.
Der Verkäufer schaute mich leicht irritiert an, hinterfragte innerlich wohl das Alter dieses Jungen, der da vor ihm stand und schändlichste Lyrik erwerben wollte, blieb aber souverän. Mit verschmitzt-belustigtem Grinsen entgegente er: „Ahhh, Hooray for Boobies…“ und führte mich zum CD-Fach „B“.
Pubertät 2000
Die Wochen zuvor war ich das perfide Opfer dieser „Heavy-Rotation“-Strategien auf MTV geworden: Da spielten sie – vorzugsweise an Nachmittagen, wenn Kinder von der Schule zuhause waren, vorbildlich ihre Hausaufgaben erledigt und sich sportlich draußen an der Luft bewegt hatten – auch dieses irgendwie leicht verstörende, aber unterhaltsame, weil irgendwie belustigende Musikvideo zum Lied „Along Comes Mary“ (Dass der Song ein Cover war, verschwieg mir meine Recherche-Faulheit 20 Jahre lang. Danke, Lorenz!).
Seitdem fand ich die Band irgendwie cool. Was schon an den Namen ihrer Mitglieder lag: Amis namens Lüpüs Thünder (welcher Ami kann ein „ü“ aussprechen?), Spanky Q. Ball, Evil Jared Hasselhoff (der wahre Hoff!) und Jimmy Pop Ali.
Dazu diese herzlich-herrlich grenzdebilen Ausdrucksformen in ihren Gesichtern im CD-Inlet und Booklet. Versager als Popstars. Versager und Jungs wie wir, von nebenan, aus den Suburbs. Pubertierende Halbstarke, die eh nie bei den heißesten Mädels der Schule landen würden. Es sei denn, es klappt mit der Popstar-Karriere… Verdammt!
Auch die Texte hatten Swag. Ja, ernsthaft. Da geht es nicht immer nur um Genitalien und Fäkalien, wie der Band oft unterstellt wurde. Ernsthaft. Wie auf ihren beiden Vorgänger-Alben brachten die Crossover-Jungs aus den USA auf „Hooray for Boobies“ ab und zu beachtliche Songwriter-Qualitäten zu Tage.
Beispielweise schon mal aufmerksam „A lap dance is so much better when the stripper is crying“ durchgehört? Oder “Hell Yeah“? Oder „Mope“? Oder „3.14“? Oder „I hope you die“? Lyrische Perlen! Und auf dem Vorgänger-Album „One Fierce Beer Coaster“ verstecken sich zusätzlich einige kreative Knallbonbons an zündenden Wortwitzen.
Brüste, hihi
Klar, nach ihrem endgültigen internationalen Durchbruch mit „Hooray for Boobies“ inszenierte die Band ihr Image als niveauarme Party-Band bis hin zur kommerziellen, fragwürdigen Perfektion (nach „Hooray for Boobies“ kam im Grunde nur noch verzichtbares). Ja, und auch ihre musikalischen Ansprüche und Outputs schraubte die Band in der Folge vollends herunter, passte sich komplett den Gegebenheiten des Marktes an. Peinlicher Höhepunkt: ein „Disco-Pogo“-Remix für die „Atzen“!
Aber: Die Band, allen voran Sänger Jimmy Pop, nur auf das zu reduzieren, für was sie einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind – obszönes Verhalten, plump-pubertäre Attitüde, grenzdebile Arrangements, die Fixierung auf Genitalien, meschliche und tierische Körperflüssigkeiten, auf primitivste menschliche Bedürfnisse – wird den Künstlern als Musikern trotzdem nicht gerecht. Immerhin haben sie ihre Lieder selbst geschrieben und konnten auch ihre Instrumente spielen.
Zurück zur audiovisuell aufbereiteten Huldigung der weiblichen Geschlechtsorgane aus dem Jahre 1999: „Hoory for Boobies“ avancierte in den Tagen und Monaten nach meinem 12. Geburtstag zu einer Art Soundtrack meiner Pubertät – nicht nur bei mir, auch bei vielen Freunden gleicher Generation.
Ich erinnere mich noch heute an den Spaß, den viele (vorwiegend) männliche Mitschüler hatten, als bei einer Klassenfahrt eines Abend die „Three Point One Four“ aus einem blechernen Lautsprecher-Set erklang und die lyrische Quintessenz des Liedes deutlichst hörbar ins benachbarte Gemeinschaftszimmer der weiblichen Mitschüler überbrachte.
Wir waren jung und primitiv, aber glücklich
Um uns das in Erinnerung zu rufen, brauchte es keinen unlustigen Pseudo-Komiker wie Mario B. aus B. Wir hatten ja die BHG um Jimmy Pop Ali aus den Ju-Ess-Aj.
Eine komplette Generation pubertärer Lebenssinnsuchender verzweifelte im Pre-YouPorn-Zeitalter wahrscheinlich an dieser einen selbst gestellten Frage: Who the fuck ist eigentlich diese „Chasey Lain“, der Jimmy Pop eine Liebeserklärung in Form eines vollständigen Liedes auf dem Album widmete? Und wo verdammt krieg man sie mal zu sehen, wenn man nicht in den USA lebt, wo diese Fox-Magazine zu kaufen gibt? Hier zum Beispiel:
Auch die anderen Videoclips zu den insgesamt fünf Single-Auskopplungen des Albums waren – zumindest im Angesichte ihres Zeitgeistes – legendär.
Wo etwa sonst gab es bis dahin öffentlich im Musikfernsehen ein Video zu sehen, in dem eine lebensgroße Plüsch-Figur von PacMan vor laufender Kamera den Crack-Konsum verherrlicht, an der Seite von Crossover-Rappern zu Disco-Beats von Frankie goes to Hollywood bounct, während die originäre Zielgruppe selbigen Liedgutes unter Regenbogenfarben in Lack und Leder dem verbohrten, homophoben US-amerikanischen Spießertum seiner Zeit die Zunge tief in den Rachen steckt? Eben.
PacMan, Schimpansen und Falco
Und da sage noch einer, die Bloodhound Gang stehe nicht (auch) für Tiefgang.
https://dovga.com/video/7268/bloodhound-gang-mope
Unbestritten legendär auch der Videoclip zum ersten und bis heute einzigen Nummer-Eins-Hit der Band in Deutschland, „The Bad Touch“. Für alle, die weder Text noch Songtitel kennen: ja, ich meine dieses Video mit den Affen in Paris und dem „Discovery Channel“ im Refrain.
Apropos Affen. Damals wie heute beschäftigt vor allem eine Frage, wenn ich dieses Lied im Radio höre: Wieviele Hörerinnen und Hörer wissen eigentlich, welchen Text sie da mitsingen? Und haben all jene Radio-Moderatoren und Redakteure der familienfreundlichen AC-Formatradios diesen Gedanken auch mit in ihre Programmplanung einbezogen?
Ich hoffe, ja. Ich hoffe, sie haben es genau gewusst. Und ich würde sie dafür feiern, wenn sie sich damals wie heute einen Spaß daraus gemacht hätten, ihren Hörern diesen Song vorzusetzen. Denn dann hätten die einstigen Gatekeeper des unbebilderten Musikjournalismus die Bloodhound Gang und deren Lebensmotto verstanden: „No reason to live, but we like it that way.“
Böse Bassisten – nette Nachbarn
Neulich sah ich Evil Jared an der S-Bahnstation meines Berliner Kiezes. Also ich sah ihn nicht direkt, nicht persönlich, sondern nur auf meinem Smartphone, auf Instagram, in meinem Feed, da hab ich den Promi-Nachbarn aboniert. Jared wohnt seit einigen Jahren in Berlin, wirkt über soziale Medien angenehm bodenständig, sympathisch, frei von Star-Allüren.
So evil ist der bestimmt gar nicht. Eher cool drauf – auf und neben der Bühne. Typisch Bassist eben. Um hier mal kurz mit diesem Rockstar-Klischee zu brechen. Von wegen, Bassisten wären introvertiert, nicht leidenschaftlich und bei Frauen weniger beliebt als die selbstverliebten, oft divenhaften Sänger oder die Sensibelchen an der Leadgitarre. Bassisten sind halt einfach die Coolsten in der Band (sorry, liebe Drummer), auch privat. Hohe Töne machen erst im Zusammenspiel mit der richtigen Tiefe so richtig Spaß.
Sollte ich Jared im Kiez mal treffen, werde ich ihn in selbstüberschätzender Naivität zum Armdrücken auffordern und herausfordern, ihn zu einem gemeinsamen Foto zwingen und die Insta-Community über meinen Promi-Fame-Moment hashtaggerecht in Kenntnis setzen. Jareds Mimik auf dem Selfie wird dann ausdrücken, dass er eine authentische Freude daran verspührte, von und mit wildfremden Menschen fotografiert und ins Netz gestellt zu werden. The show must go on.
Weitere Folgen aus der Serie „Musikalische Reise in die Jugend“
Rammstein-Spezial zum Muttertag
Episode 4: Lenny Kravitz
Episode 5: Bloodhound Gang
Episode 6: Red Hot Chili Peppers
Episode 7: Die Toten Hosen
Episode 8: Die Ärzte
Episode 9: Blink-182
Episode 9: Limp Bizkit
Episode 11: Linkin Park
Episode 12: Papa Roach
Episode 13: Eminem
Episode 14: Green Day
Episode 15: Beatsteaks
Episode 16: System Of A Down
Episode 17: Muse
Serie „Musikalische Reise in die Studentenzeit“
Folge 1: Nirvana
Folge 2: Oasis
Folge 3: Böhse Onkelz
Folge 4: The Rifles
Folge 5: The Prodigy
Folge 6: Blackmail
2 Gedanken zu “Musikalische Reise in die Jugend. Episode 5: Bloodhound Gang”