Auf mein erstes Musikalbum – „Aquarium“ von „Aqua“ (siehe voriger Bericht) – folgte, als einzig logische, musikalische Konsequenz: na klar, Rammstein (mit ihrem Album “Sehnsucht“). Die Parallelen zwischen beiden Künstlern lagen schließlich auf der Hand.
Beide machten harte Musik. Beide nahmen sich dabei nicht zu ernst. Beide hatten damit Erfolg.
Mit einigen Jahren reflektierten Abstands fragte ich mich hin und wieder, was es über junge Menschen aussagt, wenn sie bereits im Alter von elf Jahren etwas mit der Musik von Rammstein anfangen können.
Die gleiche Frage stellte sich 1999 vermutlich auch mein damaliger, frisch aus dem Referendariat entlassene Musiklehrer Holger S.
Kulturschock im Klassenraum der R7a
Jede Woche erlaubte der sensible Pädagoge seinen Schüler*innen, für die nächste Stunde des Musik-Unterrichts eine Lieblings-CD mitzubringen, um sie vor versammelter Klasse vorzuspielen und anschließend zu analysieren.
Nachdem eine Mitschülerin an einem dieser Tage alle im Raum Versammelten durch die manisch-depressiven, demotivierenden Weltschmerz-Klänge eines schwedischen Mädchens („I’m a big big girl in a big big world“) eingelullt, eingeschläfert in eine Art Frühlings-Depression gestürzt hatte, sah ich mich als fürsorglicher Mensch in der Verantwortung, Mitschüler und Lehrer aufzuwecken, die Stimmung im Plenum aufzuheitern, die Szenerie aufzulockern, etwas Bums in die Bude zu bringen.
Entschlossen schritt ich nach vorne zum Lehrerpult, reichte Herrn S. meine mitgebrachte CD und sagte „Lied Nummer fünf“.
Noch heute erinnere ich mich bestens an den Gesichtsausdruck meines Lehrers und an die größtenteils irritierten Reaktionen vieler Mitschüler*innen, als Holger S. die CD eingelegt hatte und die ersten Töne von „Sehnsucht“ erklangen. Tanz-Metal im Schnell-Bau. Doch die Meute blieb regungslos
(Bis auf Nawid, unseren neuen Mitschüler aus den USA, der frisch aus Las Vegas imigriert war, mit dem ich mich täglich auf dem Schulhof bi-lateral über deutsche und amerikanische Eigenarten und Musikkultur austauschte – und von dem ich erfuhr, dass Rammstein in den USA zu jener Zeit als heißester und einziger popkulturell relevanter Import aus Deutschland galten. Nicht der Texte wegen, sondern wegen der Pyro-Shows. „All that fire, you know?!“, erläuterte Naweed begeistert und präsentierte mir stolz seine Deutsch-Skills zu Tills Lyric-Skills: „Duuuu, du haaascht, du hasch mick“)
Dass Holger S., der sensible Musikpädagoge, die Wiedergabe meiner Lieblingmusik nach bereits 50 Sekunden einfach abbrach, anschließend kein Wort über die soeben vernommene Musik verlor, stattdessen wortlos einige Minuten verstreichen ließ, bevor er mit stoischer Ruhe den nach Lehrplan vorgegebenem Standard-Unterricht fortsetze, nahm ich durchaus persönlich, fand ich schwach, war mir unerklärlich – aber unterm Strich auch egal. Denn ich hatte mein Ziel erreicht, das kleinbürgerliche Spießervolk aufgemischt. Diesen Spaß war die Musik-Note im folgenden Zeugnis wert.
Pubertäre Rebellion mit rrrrollenden „Rrrrr“s
Die psychologisch einzig nachvollziehbare Erklärung und Antwortet auf die Frage, warum ein elfjähriges Kind bereits Rammstein hört und mag, lautet wohl, dass dieser Mensch in seiner post-natalen Phase bereits früh mit moralisch fragwürdiger Unterhaltungsmusik in Kontakt gekommen, mit ihr sozialisiert und durch sie musikalisch desorientiert worden sein muss – in meinem Fall hieß das vor allem: jahrelange, tägliche Dauerberieselung mit dem grenzdebilen Programm des Radiosenders „FFH“ im Elternhaus.
Als Reaktion und Antwort darauf Rammstein zu hören, heißt aber offensichtlich auch, dieser anfänglichen, Elternhaus-bedingten musikalischen Desorientierung frühstmöglich mit Erfolg entkommen zu sein – und anschließend recht schnell die Kurve gekriegt zu haben, sich bereits in jungen Jahren erfreulicherweise doch noch einen vergleichsweise künstlerisch wertvollen Musikgeschmack angeeignet zu haben. Kurz: Radio böse, Rammstein gut.
Als Kind Rammstein hören – klingt zunächst vielleicht seltsam, ich kann euch aber beruhigen. Mein Motiv, diese Musik zu hören, geht auf harmlose Gründe zurück. In erster Linie catchten mich die simplen, aber brachialen Gitarrenriffs der Herren Landers und Kruspe. All das optische Brimborium aus Pyro und Show-Effekten drumherum war mir unbekannt, ich besaß schließlich zunächst nur Audiomaterial. Auch Till Lindemanns Gesang spielte für mich zunächst nur `ne Nebenrolle.
„Ganz normale, romantische Lieder“
Die Texte empfand ich nicht wirklich als verstörend. War ja auch alles harmlos. Musiker, die in der DDR sozialisiert wurden und für dortige Verhältnisse als Punks durchgegangen waren und wären, gossen ihr Herzeleid in Riffs und Reime und provozierten nun im Westen – so schlicht und offensichtlich wie effektiv.
Klappt bis heute, 25 Jahre später. Mit Songtexten über Glaube, Gewalt und Liebe in all ihren vielfältigen Formen und Facetten: Liebeskummer, Nekrophilie, Sadomaso, Inzest, sexuellem Missbrauch, Cunnilingus, Eifersucht, Mord und Ehebruch. Ganz normale Themen aus der Lebenswirklichkeit und damit auch aus dem Umfeld von Pubertierenden. Keyboarder „Flake“ Lorenz analysierte das bereits 1998 in einem Interview durchaus treffend (7‘45): „Jedes Kind hat schon so viel Dreck im Fernsehen gesehen, das wir dagegen wie Waisenknaben sind.“
Zu nem Amokläufer wie in Littleton oder Psychopaten haben mich die Texte der Rammsteiner nicht gemacht. Schon als Pennäler konnte ich Songs wie „Weißes Fleisch“ und „Wollt ihr das Bett in Flammen sehen?“ anhören, ohne mich mit den darin thematisierten Gewaltfantasien zu identifizieren.
Ich wusste, so glaube ich, schon früh, die Texte, das Schaffen und die Stilmittel Rammsteins korrekt einzuordnen und als das zu verstehen, was sie in erster Linie sind: Ausdrücke künstlerischen Schaffens – oft vielseitig interpretierbar, meistens mindestens zweideutig, gerne provokant. Kunst ist langweilig bis überflüssig, wenn sie beliebig und harmlos daherkommt, nicht aneckt, keine Aufmerksamkeit erregt. Künstler wollen gehört und gesehen werden.
Das bisschen Provokation – mein Gott. Wer Gesellschaftskritik nicht verträgt, sollte die eigene soziale Existenzberechtigung hinterfragen, das Stöckchen ziehen vor dem Hinsetzen.
Und Rammstein können ja auch mehr als nur Provokation. Ihre Lyrik ist bisweilen eine Kunst für sich, Poesie – bereits seit dem ersten Album (1995). Glaubt ihr nicht? Lest mal die Texte zu „Seemann“ oder „Du riechst so gut“.
Ein bisschen zwischen-den-Zeilen-lesen-können, ein bisschen soziale Intelligenz besitzen, und man kann Rammstein nicht falsch verstehen. Es sei denn, man hat die Absicht. Oder man ist zu dumm dafür. Oder beides. [Gleiches gilt übrigens auch für den Umgang mit den Böhsen Onkelz, aber das ist einen eigenen Bericht wert]
Damals. Als auf MTV noch Musik lief…
Das erste Mal, dass ich Rammstein sah, war vor einem Fernseher im November 1998, als sie „Du hast“ bei den „MTV Music Awards“ performten. Schaute ein bisschen aus wie Boygroup, war aber richtige, also handgemachte, selbstgeschriebene Musik.
Bevor ich „Sehnsucht“ irgendwann käuflich erwarb, besaß ich es in anderen, damals gebräuchlichen Formen: zunächst auf Kassette. Das war praktisch, denn „Sehnsucht hat ein Spieldauer von ziemlich exakt 44 Minuten und passte somit perfekt, ohne irgendwelche Lieder kürzen zu müssen, auf eine übliche MC-Seite, die von Werk aus 45+x Minuten fasste.
Betörte Nachbarn und eine mütterliche Odyssee
Ein Arbeitskollege meiner Mutter hatte ihr das Album auf Kassette für mich mit nachhause gegeben. Meine Mutter ahnte an diesem Tage offenbar nicht, was sie sich damit für viele Jahre antun sollte. Oder sie ahnte es, ließ es aber mir zu liebe über sich ergehen.
Ich hörte das Album ziemlich oft und ziemlich gerne, meistens ziemlich laut. Die Nachbarn mochten wohl eher Jazz. Irgendwann riss der Kontakt zu ihnen ab. Wie das so ist. Ich glaube, wir haben uns irgendwann einfach auseinandergehört…
Irgendwann kurz vor der Jahrtausendwende besaß ich dann einen dieser damals total angesagten Discman. Sowas wie ein Walkman – nur für CDs statt MCs. Und somit kam auch bald der Wunsch auf, mir „Sehnsucht“ als CD zuzulegen.
Ende der 90er, eine Zeit, als es das Internet noch nicht in deutsche Privathaushalte geschafft hatte, Radio und Musikfernsehen wichtig waren, Vinyl noch kein Revival erlebte, sondern faktisch ein modrig-scheintotes Nischendasein fristete, galt die MC als Auslaufmodell und die CD als Standard unter den physischen Tonträgern (quasi als Pendant zur aufkommenden DVD im Videobereich, die der VHS den Rang ablief).
Menschen, die technische Geräte besaßen, mit denen CDs für den Privatgebrauch vervielfältigt äh einzig allein für den Privatgebrauch als Sicherungskopie angefertigt werden konnten, galten daher also ein kostbares, soziales Gut und Must-Have in der peer-group.
Exkurs: die gesellschaftliche Relevanz des CD-Brennens in der pre-Internetalen Phase
Mit zeitgenössischen Brennprogrammen ließen sich nicht nur 1:1-Abbilder von Original-CDs erstellen, sondern auch einzelnen Lieder aus verschiedenen CDs auf einer neuen, eigenen CD zusammenstellen. Was heute banal klingt, war damals fast revolutionär, mindestens aber ein echter Mehrwert, weil praktisch und effizient.
Als Käufer originaler CD-Sampler stand man prinzipiell vor diesem einen großen, unausweichlichem Problem und Ärgernis: Niemals, wirklich niemals (das ist sicher irgendwo empirisch belegt), waren auf der gekauften CD-Compilation ausschließlich Songs, die man gut fand. Im Gegenteil: Unter den (meist 18 bis 20) Lieder dieser CDs befanden sich größtenteils Songs, die man sich nie einzeln gekauft hätte – und es gab immer, wirklich immer, auch mindestens diese vier, fünf Songs pro CD-Sampler, für die die Skip-Taste erfunden wurde.
Wer einmal im Leben eine „Bravo Hits“ oder „The Dome“ (und wie sie alle hießen) gekauft hat, wird das Phänomen aus erster Hand und leidvoller Erfahrung kennen. Und weil diese CD-Sampler in der Regel als Doppel-CD verkauft wurden, kaufte man – vereinfach gesagt – für den doppelten Preis (etwa 40 D-Mark) vergleichsweise viel Füllmaterial bis Schrott. Auch ein Grund, weshalb CD-Singles (kosteten meist zehn bis 12 Mark) damals bei vielen CD-Käufern eine beliebte und absatzstarke Alternative zu CD-Samplern waren.
Ökonomisch denkende Konsumenten kauften statt Sampler und Singles lieber Alben der (Lieblings-)Künstler – wohl wissend, dass sich Alben bei drei bis vier Single-Auskopplungen besser rechnen würden, als einzelne Singles zu kaufen. Noch ökonomischer denkende Konsumenten brannten sich die CDs (vorzugsweise Alben und Sampler, seltener Singles).
Erinnerungen an Windows 98
Kurzum: Wer CDs brennen konnte, war gefragt. Die ganz fortschrittlichen und professionellen Vertreter dieser technisch versierten, elitären Riege besaßen zusätzlich sogar einen praktischen Tintenstrahldrucker – und damit die Fähigkeit sowie Motivation, auch CD-Cover und Inlets der Original-CDs mit einem Mindestmaß bis Höchstmaß an Akkuranz zu reproduzieren und diese Ausdrucke so in die jeweiligen Jewel Cases (CD-Hüllen) zu platzieren, dass der Schein gewahrt blieb, beim Produkt in den Händen handele es sich um ein original gekauftes Produkt.
Es galt in der Szene als Antrieb, Challenge, Anspruch und Qualitätsmerkmal zugleich, die möglichst perfekte Kopie zu erstellen.
Seid ehrlich! Jeder von euch hatte mindestens eine solcher CDs im CD-Ständer stecken oder im Schublädchen liegen. 😉
Der Local Nero meiner Umwelt war ein (mir unbekannter) Arbeitskollege meiner Mutter. Er gab ihr damals eine gebrannte „Sehnsucht“-CD für mich nachhause mit – inklusive eines eher weniger als mehr professionell gedruckten sowie akurrat eingesetzten Covers und Inlets. Aber egal, wichtig war die CD.
„Wenn ich die schon sehe…“
Irgendwann, es muss so um 2001 gewesen sein – ich hatte „Sehnsucht“ bis dahin wahrscheinlich hunderte Male in meinem Leben auf MC und CD durchgehört – kaufte ich mir das Album im Original, gab also erstmals Geld dafür aus. „DIE schon wieder…“, lautete Mutters erstes Urteil, als sie meinen Einkauf am Abend zuhause in der Einkaufstüte erblickte. „Wenn ich schon diese Typen schon sehe…“ [sie meinte die künstlerisch wertvoll illustrierten Köpfe der Bandmitglieder auf dem CD-Cover].
Mindestens genauso viel Begeisterung wie die optische Aufmachung des Produkts entfachte bei meiner Mutter der auditive Inhalt: Mit der Zeit kam ich zur analytischen Erkenntniss, dass vor allem zwei Lieder des Albums sich zum in den auserwählten Kreise der Lieblingslieder meiner Mutter dazugesellten: „Du hast“ und „Engel“.
Gewimmer im Kinderzimmer
Damals wie heute, immer wenn irgendwo irgendwie die Rede auf „Rammstein“ fällt, liegt Mutter mir in den Ohren mit ihren Erinnerungen aus jener und an jene Zeit, als ihr regelmäßig ein engelsgleiches Pfeifen in den Ohren lag, sobald sie mein Zimmer betrat oder in die erweiterte Nähe der Zimmertür trat.
Wie oft sie dann in meinem Beisein „Der mit seiner Stimme…!“ oder „Mach dieses ****** Gepfeife leiser! Ich kann‘s nicht mehr hören!“ artikulierte, kann ich heute weder quantifizieren noch mit Sicherheit sagen. Mit Sicherheit aber oft. Sehr oft.
Fun Fact: Das auf „Sehnsucht“ folgende Rammstein-Album trug den Namen „Mutter“), veröffentlicht am Muttertag 2001. Rammstein-Fan wurde Mutter nie.
Umso mehr wusste und weiß ich noch heute zu würdigen, dass mir meine Mutter zu Weihnachten 2001 den Wunsch erfüllte, mir die Rammstein-DVD „Live aus Berlin“ zu schenken.
Meine Erste DVD
Monatelang zählte ich die Tage und Wochen herunter, bis ich endlich diese Silberscheibe in das DVD-Laufwerk meines ersten PC [Scott, Windows Millenium Edition, 1,2 GB RAM] einlegen und ihren Inhalt auf einem klobigen 17’Zoll-Monitor anschauen konnte. Vorfreude im Vor-YouTube-Zeitalter. Hier der DVD-Film in einer Kurz-Version (auf YouTube).
Ich empfehle die ungeschnittene Kauf-Version der DVD (Spieldauer 90 Minuten plus Bonusvideo sowie einem charmant programmierten Quiz, allerdings ohne das zensierte „Bück dich“)
Rammstein stehen so gesehen für meine Phase der pubertären Rebellion gegen die Eltern.
Obwohl ich das eigentlich gar nicht im Sinn hatte, nie (bewusst) vorhatte. Aber Mutter war ja selbst schuld. Was brachte sie mir auch erst diese Kassette und später diese CD von Arbeitskollegen mit nach Hause?
Und Mutter hörte Schlager wie Wolfgang Petry. Da musste ich doch irgendwie dagegen vorgehen, ein popkulturelles Gleichgewicht im Hause Wolf schaffen. Ich bin mur keiner Schuld bewusst.
Im Endeffekt war alles nur eine Frage der leistungsstärkeren Stereoanlage. Und da hätte Mutter einfach nur nicht nachgeben dürfen. Bei „Mensch ärger dich nicht“ hatte sie mich meiner Erinnerung nach ja auch nie absichtlich gewinnen lassen.
Wann ich „Sehnsucht“ zuletzt auf CD gehört habe, weiß ich nicht. Lange her. Ich glaube, es wird mal wieder Zeit für einen Heimatbesuch. Mutter wird sich freuen.
Weitere Folgen aus der Serie „Musikalische Reise in die Jugend“
Episode 2: Rammstein
Muttertag-Spezial zu Rammstein
Episode 3: The Offspring
Episode 4: Lenny Kravitz
Episode 5: Bloodhound Gang
Episode 6: Red Hot Chili Peppers
Episode 7: Die Toten Hosen
Episode 8: Die Ärzte
Episode 9: Blink-182
Episode 9: Limp Bizkit
Episode 11: Linkin Park
Episode 12: Papa Roach
Episode 13: Eminem
Episode 14: Green Day
Episode 15: Beatsteaks
Episode 16: System Of A Down
Serie „Musikalische Reise in die Studentenzeit“
Folge 1: Nirvana
Folge 2: Oasis
Folge 3: Böhse Onkelz
Folge 4: The Rifles
Folge 5: The Prodigy
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