Musikalische Reise in die Jugend. Episode 14: Green Day

Heute vor 15 Jahren: Die US-Punkpoprocker „Green Day“ fühlen sich verpflichtet, der Welt mitzuteilen, dass Amerika von (mindestens einem) Idioten regiert werde. Das zugehörige Album prägt Generationen.

Wer am 11. September 2001 im Fernsehen sah, wie die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York in sich zusammenfielen, wird sich wahrscheinlich noch Jahre später daran erinnern können, wo er oder sie (m/w/d) sich in diesem Moment aufhielt. Manche Ereignisse brennen sich tief in das menschliche Gedächtnis ein.

Journalidealist Andreas Wolf - Musikalische Reise in Jugend - 14 - Green Day - American Idiot.png

Wer fast genau drei Jahre auf den Tag nach 9/11 vor dem Fernseher saß, die Musiksender VIVA oder MTV eingeschaltet hatte, dem oder der (m/w/d) wird es eventuell ähnlich gehen – wie mir.

„Don’t want to be an american idiot“

Am 31. August 2004 strahlte MTV ein Musikvideo aus, das mit der ersten Sekunde, mit dem ersten Ton, mit dem ersten angeschlagenen Gitarrenriff sofort meinen Nerv traf – und, ja, soweit würde ich gehen zu behaupten, meine musikalische Entwicklung nachhaltig prägen sollte. Nicht nur meine.

Drei Minuten und zwei Sekunden war dieser Videoclip lang beziehungsweise kurz. Diese drei Minuten und zwei Sekunden reichten, um schlagartig eine neue Lieblingsband entdeckt zu haben: „Green Day“. Diese US-amerikanische Poppunkrockband, die mir bis dahin nur vom entfernten Hörensagen älterer Semester der „Generation X“ bekannt war – in einem Atemzug mit Wortaneinanderreihungen wie „Dookie“ und „Basket Case“ und „Whoa! Ist das schon so lang her…?!“.

Zehn Jahr vor „American Idiot“, 1994, hatten Green Day ihr legendäres Album „Dookie“ und die legendäre Single „Basket Case“ veröffentlicht. Beides schlug ein wie eine Bombe, verkaufte sich Millionenfach, machte die dreiköpfige Band um Frontmann Billie Joe Armstrong zu Stars. Mit zeitgleich ebenfalls erfolgreichen Punkrockbands wie The Offspring („Self Esteem“) traten Green Day ein (kommerzielles) Punkrock-Revival los, das Mitte der 1990er Jahre nahtlos die Lücke schloss, die die (kommerzielle) Grunge-Bewegung um Nirvana nach dem Tod Kurt Cobains 1994 aufgerissen hatte.

Mein erster Gedanke, als ich den „American Idiot“-Clip das erste Mal sah: Was. Für. Ein. Brett.

Comeback der „Dookie“-Punkpopper

Das auf Hochglanz in Bewegtbildern produzierte Meisterwerk kommerzieller Punkrockromantik eroberte mein spätpubertäres, linksidealistischsozialkritisches Herz so schnell wie preisreduzierte Alben in der CD-Abteilung des Musikladen meines Vertrauens.

Vier Akkorde (A G D E), eingängige Riffs, eingängige Melodien, verzerrte Gitarren, kompromisslos heruntergeschrubbte Powerchords – und ein Text, mit dessen sozialkritischer, anti-imperialistischer, eindeutiger Rhetorik ich mich sofort identifizieren konnte.

Um die künstlerische und textliche Dimension von „American Idiot“ korrekt einordnen zu können, sollte man sich den Zeitgeist bewusst machen, zu dem das Album entstand: Es war das Jahr 2004; unter Regie ihres damaligen Präsidenten George W. Bush befanden sich die US-Regierung und das US-Militär mal wieder auf „World Domination Tour“. Die meisten Auftritte statteten die seit Jahrzehten Welttournee-erfahrenen Weltenbummler aus dem Westen seinerzeit dem Süden Asiens ab, größtenteils bei Open-Airs in hügeligen Landschaften, in Afghanistan. Dort eroberten die westlichen Exportschlager die Herzen Tausender Locals im Sturm, erarbeiteten sich – in durchweg ausverkauften Häusern – schnell zahlreiche Sympathien. US-Regierungsnahe Massenmedien begleiteten die Tour, sendeten Ausschnitte der Abrisse über den „großen Teich“ in die US-amerikanischen Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küchen und Toiletten – und sorgten mit dafür, dass leichtgläubige US-Bürger begeistert zum Sound der imperialistischen Big Band mitrockten, den US-amerikanischen Krieg „gegen den Terror“ am fernen Hindukusch mit tausenden unschuldigen Todesopfern zuhause als zweckmäßiges Kulturgut und Entertainment wahrnahmen.

Gegen Bush, gegen Krieg, gegen Propaganda

Im Spätsommer 2004 fühlten sich drei ehemalige Punkrocker aus Kalifornien offensichtlich verpflichtet oder berufen, ihren Protest an der US-amerikanischen (Außen)politik in ein musikalisches Gewand zu gießen.

Wie auf Tonträger kommt dieser Protest auch im zugehörigen Videoclip wie aus einem Guss daher – unter anderem in Form grüner Lebensmittelfarbe, die zunächst die Stars und Stripes der US-amerikanischen Nationalflagge und danach das Setting flutet. Eine ungemein kreative Idee für eine Band mit dem Namen „Grüner Tag“.

Konzeptalbum wie aus einem Guss

Die Single „American Idiot“ war der Vorbote des gleichnamigen Albums, das am 21. September 2004 vom „Warner“-Label „Reprise Records“ veröffentlicht wurde. Auf der regulären Version des Longplayers befinden sich 13 Songs mit einer Gesamtspielzeit von rund 57 Minuten. Die limiterte Edition enthält zwei Bonus-Songs (die „B-Seiten“ der ersten Single-Auskopplung).

Füng Songs wurden als Singles ausgekoppelt: Der Titeltrack „American Idiot“, das radiotauglichere „Boulevard of Broken Dreams“ (Januar 2005), das politische „Holiday“ (Mai 2005), das radiotauglichere „Wake me up when september ends“ und „Jesus of Suburbia“ (vor Weihnachten 2005).

Rock-Oper im Stile von „The Who“

Die Band bezeichnete das Album als ein Konzeptalbum, als Rock-Oper, angelehnt an das Album „Quadrophenias“ (1973) der britischen Rockband „The Who“.

Die 13 Songs auf „American Idiot“ erzählen eine zusammenhängende Geschichte rund um einen fiktiven Hauptcharakter: ein junger US-Amerikaner, der an einer Identitätsstörung leidet, dem stumpfen Leben und der Perspektivlosigkeit seiner kleinbürgerlichen Vorstadt entfliehen will, in die Stadt zieht, auf der Straße landet, sich unglücklich verliebt, seinen seelischen Schmerz mit Drogen betäubt und dessen „zweites Ich“ sich aus Liebeskummer umbringen will.

Anspieltipps: St. Jimmy, Give me Novocaine, Letterbomb, Homecoming, Whatsername

Der rote Faden des Konzeptalbums ist auch in den Videos der ausgekoppelten Singles zu erkennen. So etwa bei den Übergängen zwischen dem dritten und vierten Song des Albums „Holiday“ und „Boulevard of Broken Dreams“.

Nachdem die drei Bandmitglieder am Ende des Videos zu „Holiday“ mit ihrem Cadillac vor den Bomben der „War on Error“-Politik der Bush-Regierung in die Wüste geflohen sind und ihr bereift-motorisiertes US-amerikanische Freiheitssymbol mit Gruß an den kalifornischen Gouverneur Arnold Schwarzenegger irgendwo im Nirgendwo abgestellt haben, setzen die Musiker zur melancholischen Fahrt und zum gedankenveträumten Spaziergang über den „Boulevard of Broken Dreams“ an. Die armen Millionäre.

„Wake me up when september ends“ drückt auf die Tränendrüse. Das sieben Minuten lange Video erzählt die Story eines jungen Amerikaners, der zum Wehrdienst ins ausländische Kriegsgebiet abgezogen wird – und nicht mehr lebend zu seiner sehnsüchtig wartenden und schließlich verzweifelt leidenden Freundin zurückkehrt.

Als fünfte und letzte Single veröffentlichten „Green Day“ kurz vor Weihnachten 2005 den Neunminüter „Jesus of Suburbia“. Das zugehörige Video vermittelt einen Eindruck davon, wie sich die Band offensichtlich vorstellte, den Hauptcharakter und dessen Geschichte zu Beginn ihres Konzeptalbums nicht nur mit Text zu bebildern.

In meiner All-Time-Favourite-Liste steht dieses Album auf Rang eins.

Warum? Zu keinem Zeitpunkt – okay, am ehesten noch bei Track neun, „Extraordnary Girl“ – verleitet „American Idiot“ (mich) dazu, die Skip-Taste zu bedienen. Es gibt nicht viele Alben mit einer Spielzeit von rund einer Stunde, die ich durchhören kann, ohne einzelne Lieder zu überspringen oder mich an ihnen zumindest irgendwie zu stören.

„Sieg Heil to the president Gasman

Bombs away is your punishment

Pulverize the Eiffel towers

Who criticize your government

Bang bang goes the broken glass

And kill all the fags that don’t agree“

(aus „Holiday“)

Zu einprägsam sind die – im Grunde sehr simplen, stets nach dem selben minimierten Instrumentalmuster arrangierten – Melodien. Zu sehr passt die Botschaft, die das Album transportiert, zu meinen gesellschaftspolitischen Ansichten und zu meiner Sozialisation im „alten Europa“, die über Jahre hinweg vor allem durch den unreflektierten Konsum US-amerikanischer (Medien-)Produkte geprägt war (Stichwort: Privatfernsehen der 90er Jahre).

Auch wenn die optische Darstellung der Musik aufgrund der hochprofesionellen, kostspieligen Vermarktung bis ins maximal gerade noch so erträgliche inszeniert ist (ehemalige Punkrocker über 40 im Emo-Schminke-Outfit wirken auf mich – diplomatisch formuliert – eher peinlich), schafft die Band mit „American Idiot“, dass ich ihr abkaufe, dass sie das, was sie hier performt, im Kern ernst meint und authentisch vertritt.

„This is anti-war, not anti-american“

Wenn Billie Joe Armstrong über Jahrzehnte hinweg bei gefühlt jeder Live-Performance von „Holiday“ zigmal ins Publikum brüllend darauf hinweist, dass Krieg scheiße ist und wie ein Hobby-Diktator die Masse wild gestikulierend und beharrlich dazu animiert, seine Message zu wiederholen, ist das natürlich kalkulierte Show – klingt aber auch überzeugend.

Unmöglich, nachzuverfolgen, wie oft ich einzelne Songs des Albums angehört oder das komplette Album in den vergangenen 15 Jahren durchgehört habe.

In meiner umfangreichen Plattensammlung wird die Hartplastikhülle mit dem schwarz-rot-weißen Recyclingpapier-Booklet und dem schwarz bedruckten Siberling jedenfalls immer einen Platz haben.


Weitere Folgen aus der Serie „Musikalische Reise in die Jugend“

Episode 1: Aqua

Episode 2: Rammstein

Rammstein-Spezial zum Muttertag

Episode 3: The Offspring

Episode 4: Lenny Kravitz

Episode 5: Bloodhound Gang

Episode 6: Red Hot Chili Peppers

Episode 7: Die Toten Hosen

Episode 8: Die Ärzte

Episode 9: Blink-182

Episode 9: Limp Bizkit

Episode 11: Linkin Park

Episode 12: Papa Roach

Episode 13: Eminem

Episode 14: Green Day

Episode 15: Beatsteaks

Episode 16: System Of A Down

Episode 17: Muse


Serie „Musikalische Reise in die Studentenzeit“

Folge 1: Nirvana

Folge 2: Oasis

Folge 3: Böhse Onkelz

Folge 4: The Rifles

Folge 5: The Prodigy

Folge 6: Blackmail

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