Wie konnte diese Band jahrelang unter meinem Radar laufen? Spätestens mit ihrem Live-Gig in Huxleys Neuer Welt in Berlin beweisen die Stereophonics: Sie gehören zu den aalglattesten Poprock-Bands unserer Zeit. Das ist auch ein Kompliment. Eine Konzertkritik.
Konzertkritik: Stereophonics live and kind im Huxleys Berlin
- Wann: 2. Februar 2020
- Wo: Huxleys Neue Welt, Berlin-Neukölln
- Wie lange: zwei Stunden
- Wie teuer: 38 Euro
- Vorband: Nadia Sheikh (30 Min)
Pünktlich um 21 Uhr geht’s los. Ein kurzes Instrumental-Intro vom Band, dann kommen die vier Bandmitglieder gemeinsam auf die Bühne gelaufen. Ohne viel Pathos oder Tamtam. Hinstellen bzw. hinsetzen, Instrumente anfassen, loslegen.
Kelly Jones liebt viele Gitarren
Man merkt sofort: Da sind Vollprofis am Werk, jahrelang im Geschäft. Jeder Ton, jeder Schritt, jede Abfolge, jeder Übergang ist erprobt, abgestimmt, passt.
Das gilt auch für die zahlreichen Gitarrenwechsel des Frontmanns. Kelly Jones zeigt offenbar gerne, was er hat und spielen kann (ein Klavier ist auch dabei). Vor und während des Gigs stelle ich mir die Frage, wieviele Minuten Jones‘ Roadie auf Tour jeden Abend damit wohl verbringt, Gitarren zu stimmen. #roadierespect
Stereophonics live 2020: kind and brilliant
Vom ersten bis zum letzten Ton ziehen die erfahrenden Popstars eine Show durch, die wie am Reißbrett entworfen wirkt. Wer will es ihnen verdenken? 28 Jahre Bühnenerfahrung. Außerdem ist gerade ausgedehnt („Kind“-)Tour. Und abgesehen davon: Die Show ist gut. Lieber ne gute vom Band, die fließt, als ’ne schlechte, die stottert.
Trotz aller Routine und Coolness, die Jones und Co. ausstrahlen, gibt es Momente, die zeigen, dass da Musiker am Werk sind, die immer noch Spaß haben an ihrer Fließbandarbeit: Jamie Morrison etwa, der mit seinem Drumset erhöht auf der Bühne über seinen Kollegen thront – und vor allem auf die rockigen Nummern nur so zu warten scheint.
Drummer Morrison schlägt die Routine
Bei jedem Schlag ist dem Schlag-Erzeuger anzusehen, welche Leidenschaft und Hingabe er für sein Intrument aufbringt. Beim Solo genießt er sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen, den Applaus auch einmal für sich alleine einheimsen zu können. Dopamin für die Drummerseele.
Interaktion mit dem Publikum beschränkt die Band auf das wohl Nötigste. Ansagen gibt es kaum. Im Vordergrund steht eindeutig die Musik.
Glasklarer Sound und Nuschel-Ansagen
Sänger und Gitarrist Jones spricht während des zweistündigen Auftritts zwei, drei mal kurz zum Publikum. Was er sagt, bleibt zumindest mir größtenteils unklar. Entweder ist mein Englisch zu schlecht oder Jones‘ Englisch zu walisisch. Ist aber auch egal, was er sagt, denn schon beginnt wieder das nächste Lied – und das klingt gut.
Für alle, die einen Eindruck des Konzertes gewinnen möchten: Die Setlist des Konzerts habe ich in einer Spotify-Playlist zusammengestellt. Zwar kein Live-Mitschnitt der Show, aber zumindest etwas.
Huxleys Neue Welt: sechs Euro für ein Radler
Irgendwas, das stört? Kleinigkeiten: Bei „Mr. Writer“ fiepen Keyboard-Synthies minutenlang fies durch die Gehörgänge. Mit einer unangenehm hohen Lautstärke drängen sich die hohen Frequenzen in den Vordergrund – und wirken dabei außer Takt. #blamethekeyboarder
Was die Laune einiger Zuschauer verstimmt: unverschämt teure Getränkepreise. Beispielweise sechs Euronen inklusive eines Euro Pfand für ein Berliner-Pils-Radler in einem lieblosen, dünnen, lapprigen Standard-Plastikbecher.
Stereophonics-Publikum: das anspruchsvolle Pendant zu Oasis
Stereophonics-Fans werden das nötige Kleingeld haben, sagt mir ein oberflächlicher Blick auf das äußere Erscheinungsbild der rund 1.500 Zuschauer. Gekleidet wie die Stars auf der Bühne: unauffällig, durchschnittlich, mainstream.
Stereophonics live im Huxleys Berlin 2020: Die 90er haben überlebt
Grob geschätztes Stammpublikum an diesem Abend: Anfang-Mitte 40 mit soliden bis besser bezahlten Jobs, Typ Prenzlauer-Berg-Bürgertum. Musikfreunde, denen Oasis in den 90ern und 2000ern wahrscheinlich zu ungehobelt waren. Alle sehr entspannt und gesittet und dankbar, einen entspannnten, schönen Abend mit guter Musik hören zu dürfen.
Viele Songs vom aktuellen Album „Kind“
Die meisten Songs aus der Setlist – sieben von 25 – stammen vom aktuellen Longplayer „Kind“. Der Rest verteilt sich auf fast den gesamten Backkatalog der Gruppe. Vom Erstlingswerk „Words Get Around“ sind ebenso Lieder dabei wie von sieben weiteren Alben.
Positiv überraschend für einen Konzertbesucher, der die Stereophonics bis dahin nie live gesehen hatte: Der Sound klingt vielseitig, der Ablauf des Gigs wirkt abwechslungsreich.
Mal ruhiger, mal lauter, fast durchweg poppig, zwischendurch immer mal wieder rockig, ab und zu auch Balladen. Gitarrensoli, die sich beide Gitarristen aufteilen, erklingen wohldosiert. Sogar Johnny-Cash’eske Töne schlägt Sänger Kelly Jones kurz vor Konzertende an, lässt beim vorletzten Stück „Restless Mind“ einen coolen Westerngitarren-Countrysound erklingen.
Abwechlungreiche Setlist: Pop, Rock, laut und ruhig
Mit ihrem größten Hit, „Dakota“, beschließen die BritPoprocker ihr Set.
Beim letzten Song sehe ich erstmals an diesem Abend Konzertbesucher, die nicht nur entspannt und freudig der Musik lauschen und sich verhalten zu dieser bewegen, sondern vereinzelt sogar Fans, die richtig aus sich heraus gehen, Hemmungen fallen und den Rocker aus sich heraus lassen. Für Stereophonics-Fanverhältnisse vermutlich sogar – ausrasten.
Zum Beispiel dieser junge Mann Mitte/Ende 20, der plötzlich hinter mir auf der Treppe mit beiden Beinen auf den Boden stampft, gedankenverloren und ausgelassen hin- und herspringt, mit durchweg gesenktem Kopf in Blickrichtung Boden, den er minutenlang zum Vibrieren bringt.
Da er das konsequent außer Takt tut und damit auch mein eigenes zum-Takt-Gewippe einer anspruchsvollen Konzentrationsübung unterzieht, wünscht sich der taktlose Spießer in mir, dass der Konzertbesucher neben ihm bitte sofort mit dem unrhythmischen Rumgehampel aufhören möge.
Gesittetes Rockkonzert-Erlebnis mit wenigen Ausrastern
Sofort aber erwacht der taktvolle Pogo- und Menschenfreund in mir und folgender Gedanke gewinnt die Oberhand: Ach, komm, was solls. Lass ihn Spaß haben. Dafür simmer doch schließlich alle hier.
Schmunzelnd nippe ich an meinem inzwischen recht schalen Rest-Radler, dessen Behältnis ich kurz zuvor vom nun stark vibrierenden Boden gerettet habe.
Blick auf die Uhr: Inklusive eines Zugabenblockes etwa 130 Minuten gespielt. Durchweg guter Sound. Reibungslose Show. Rockpop nahe der Perfektion. Alles wie erwartet – und sogar noch besser. Für 38 Euro kann man da nicht meckern, wenn man denn wollte. Wieder eine geschätzte Band mehr in meiner streambaren Mag-ich-Liste.
„Berlin bound“: Facebook-Statement der Stereophonics zum Konzert im Huxleys Berlin
Warum lief die Band überhaupt jahrelang unter meinem Radar? Der Name „Stereophonics“ war mir seit Jahren ein Begriff. Richtig beschäftgt hatte ich mich mit der Gruppe aber nie. Wahrscheinlich, weil mich aalglatt produzierter, maximal auf Radiotauglichkeit getrimmter Poprock, wie er auch in Streaming-Listen hoch und runter dudelt, in aller Regel langweilt.
Konzertbesuche vs. Musik-Streaming 1:1
Spotify hatte mir das neue, aktuelle Album „Kind“ vor ein paar Wochen öfter mal in meine Random-Playlist gespült. Plötzlich, ich werde ja auch älter und gesitteter, fand ich Gefallen am Sound der Britpoprocker. Hätte nicht gedacht, dass ich das als Musiker mit einem kritischen Blick auf Lizenzverwertungsmodelle der hiesigen Streaming-Riesen einmal sage, aber: Danke, Spotify(-Algorithmus). Danke dafür, dass du mir diese Band doch noch näher gebracht hast.