Serie: Berliner Leistungssport. Teil 1: Handball. Ein Besuch bei den „Füchsen“ Berlin.
- Datum: Mittwoch, 5. Oktober 2016
- Ort: Max-Schmehling-Halle, Berlin, Prenzlauer Berg
- Spielklasse: 1 (Bundesliga)
„Ich wähnte mich im falschen Film: keinHassFüchse.
… und irgendwo im Frankfurter Stadtwald erbrach sich ein Eintracht-Fan beim Gedanken an Peter Gagelmann.“
Regen. Wind. Acht Grad. Rund 500 Besucher vor der Halle warten trotzdem entspannt auf den Einlass. Mitarbeiter*innen von Versicherungen und Banken riechen die Gunst der Stunde, wittern das lukrative Provisions-Geschäft, bewerben das größtenteils zahlungskräftige Klientel (in erster Linie bürgerliche Mitte-50er und Familien mit Kindern) – die AOK mit einem mobilen Verkaufsstand auf Rädern, die DKB mit einem räderlosen Zelt.

„Hier nur Einlass zum DKB-Familienblock“ steht an einem der drei Eingänge. Der Einlass – auch abseits des „Familienblocks“ – läuft unkompliziert und zügig. Frauen müssen ihre Handtaschen nicht öffnen, nicht durchwühlen lassen – die Ordnungskräfte verbannen Handtaschenbesitzer*innen gleich direkt aus der Warteschlange an einen dafür vorgesehen Bereich am Rande des Hallenvorplatzes. Da isse wieder, die viel zitierte Berliner Herzlichkeit.
„Wenn der Veranstalter das so will, is‘ das so“, berlinert ein Poncho-verpackter Ordner mit ergrautem Schnauzer gleichgültig.
Die Frau nimmt es klaglos hin, ihr Mann begleitet sie, räumt seine Pole-Position in der Warteschlange. Das muss Liebe sein!
Drinnen im „Fuchsbau“: Imbissbude reiht sich an Getränkebude, reiht sich an Imbissbude, reiht sich an Getränkebude. Alles vorhanden für den Fan, Rundum-Sorglos-Fress- und Trinkpakete; Nachos, Popcorn. Brezeln, Crepes. Bezahlbare Preise. Currywurst und Pommes für 2,50 Euro. Der 0,4er-Becher Bier für 4€. Pfand für Getränke: 1 €uro.
Apropos fanfreundlich und vorbildlich: „Bezahlung nur bar, ohne [„Pay-clever“-] Karte“, betont der Mann mit schwarzem Schnauzer hinter der Theke, wo junge blonde Frauen (ohne Schnauzer) geschäftstüchtig-unschuldig für Trinkgeld dauergrinsen.
Ich grinse mit; bin überrascht, beglückt, erstaunt über etwas, das ich aus deutschen Profi-Fußballstadien seit rund zehn Jahren nicht mehr kenne: Bezahlen mit Bargeld (verrückt!) – ohne für teuer Geld (meist einmalig) zu kaufende „Pay-Clever“-Karten, deren Restguthaben NIE (ich betone: nie!) zugunsten des zahlenden Besuchers „bei Null“ aufgebraucht ist, sodass die Karte – da man sich Restgeld nicht bar auszahlen lassen kann – stets mit „geschenkten“ Restbeträgen an den Verkäufer zurückgeht.
Aha-Moment: Das Online-Ticket-System verriet mir beim Vorverkauf nicht, dass mein Sitzplatz – den ich minutenlang in akribischer Kleinarbeit am heimischen Desktop-PC auswählte – einen Platz direkt hinterm Fanbock der Heimmannschaft liegt. Ich ahne: Heute wird’s um mich herum laut und stimmungsvoll. Ob ich’s will oder nicht.

Zehn Minuten bis Spielbeginn: Maskottchen „Fuchsi“ (kreativ!) betritt das Spielfeld, zu stampfenden David Guetta-Beats. Tröten, Trommelwirbel, erwachsene Menschen mit mehr oder weniger lustigen Kopfbedeckungen, etwa in Form eines – Fuchses (kreativ!). Fans und Eventfans trommeln und tröten nonstop.
Links neben dem Fanblock und hinterm Tor entdecke ich den ominösen „DKB-Familienblock“. Nicht mehr lange, dann werde ich wohl selbst dort sitzen; gehe ja immerhin stark auf die 30 zu und heirate bestimmt bald. Mein Blick streift den Blick eines Mannes im „Familienblock“. Sein Blick verrät: Er ist Vater. Den Spaß und die gute Laune am Spiel hat er – im Gegensatz zu den ihren Papa begleitenden Kindern – wohl vor dem Block an der Garderobe abgegeben.

Auf allen Sitzplätzen in der Halle liegen ausgelegt bereit: Klatschpappen und Werbebroschüren eines Stromanbieters – redaktionell aufgemacht wie ein Stadionheftchen. Eindeutiger Verstoß gegen Ziffer 7 des Pressekodex.
Fünf Minuten bis zum Anpfiff. Der Stadionsprecher gibt alles, öffnet die Sponsoren-Floskel-Kiste. Als Begleitmusik hüpft zuerst der „Sirtaki“ aus der Truhe. Geht immer. Dann die Mutter aller Erstsemester- und ü30-Partys: „I’m sexy and I know it“.
Die klatschpappenden Pappnasen auf den Rängen stimmen gezwungen, aber intuitiv-begeisterungsfreudig und gleichgültig-wohlwollend den Klatschaufforderungen des Versicherungskaufmanns am Stadionmikrofon zu.
Das seit fünfzehn Minuten pausenlos vorpreschende Trommeln im Fanblock: eintönig, aber rhytmisch, stimmig, durchaus animierend. Lob wem Lob gebührt.
Der Countdown tickt, die Spannung steigt, das Event-Team im „Fuchsbau“ öffnet die auditive Wortspiel-Kiste aus der MacBook-iTunes-Konserve: Zu Beginn der Einlaufmusik ertönt – Achtung, Wortwitz, wir sind schließlich beim Handball: „Balla Balla“. Dann: Hauptsache Bass – und irgendwelche „Musik“, die wenn möglich wie David Guetta klingt.
„… dann ist das nicht mein Sport.“
Zunächst laufen die Gäste ein. Was dann kommt, hätte ich nicht erwartet: Kein Pfeifen, keine obszönen Gesten oder primitive Beleidigungen der Heimfans in Richtung der Gegner, wie Mann es vom Fußball gewohnt ist. Nein, nichts. Kein Hass, keine Agression. Stattdessen allen Ernstes: Sympathie. Ja, gar Fairness!
Ich wähne mich im falschen Film. #keinHassFüchse
Die komplette Halle, mittlerweile bzw. immer noch hypnotisiert vom gefühlt seit 20 Minuten pausenlos durchlaufenden Mitklatsch-Rhytmus, heißt die Gäste willkommen.
Als langjährig durch Fußball sozialisierter Mann erscheint mir das ganze Spektakel inzwischen höchst suspekt. Denn gehe ich zum Sport, erwarte ich mir bekannte Verhaltensmuster: Das Reduzieren des Umfeldes auf ein simples Reiz-Reaktions-Schema, getreu banaler Abgrenzungsmerkmale wie Vereinfarben. Das Einteilen von Menschen in gut und böse, schwarz und weiß, Bier und Schweiß.
Doch hier: Das Publikum weigert sich entschlossen, künstliche und temporäre Feinbilder zu konstruieren. Bereits vor dem Spiel steht fest: Handball ist nix für mich, weil zu zivilisiert und bürgerlich. Da kann ich ja gleich zu „RasenBallsport RedBull Leipzig“ gehen – denk ich mir und nuckle demonstrativ für alle Überwachungskameras sichtbar an einem Softdrink, der weder Bullenpisse Taurin noch Gummibärchengeschmack enthält.
Die Heimmannschaft läuft ein. Was DANN passiert, hätte ich nie erwartet. Echt jetzt. Besonders Sekunde 0:56 des folgenden Videos jagte mir einen Schrecken ein.
Drei von 60 Minuten gespielt. Ein Experte in Block C, Reihe 12, hat Sitzplatz Nummer acht unter seinen – sportlich-fair ausgedrückt – seeehr muskulösen Schenkeln vergraben, berliner-grantelt beim Spielstand von 0:4: „Da is null Bewegung!“ Keine Pointe.
Zwei Gegentore und 20 Sekunden später entlädt sich sein Frust am „Schiiiri“, denn „was pfeifft der daaaa?!“. Nach dem ersten Tor für Berlin („kann man mal machen“) läuft Experte „C-12-8“ wie Berlins Torwart zu Hochform auf.
18. Minute. Endlich eine längere Spielunterbrechung (Auszeit Berlin). Endlich Zeit für den Stadionsprecher, den Zuschauern richtig einzuheizen und sie für das zu begeistern, auf was es bei einem Handballspiel wirklich ankommt: „Es gibt 50 Euro zu gewinnen“, wirbt der Mann am Mikrofon und verweist – unterlegt von Guetta’schen Klängen – auf irgendein Sponsorenspiel an irgendeinem Ort in der Halle zu irgendeinem Zeitpunkt während irgendeiner folgenden Spielunterbrechung. Offenbar ein gewiefter Fuchs, dieser Stadionsprecher.
Nächste Spielunterbrechung. Ein Dutzend knapp bekleideter junger Damen im grünen Minirock – durchweg blond, gelockt, schmollmundig, um die 20 Jahre, unter 60 kg – cheerleadert tapfer mit der stets gleichen, künstlich aufgesetzt lächelnden Grinsemimik. 14-jährige Zuschauer (in der Mehrheit männlich) masturbieren indirekt mit ihrer Smartphone-Kamera.
„Figgse! Figgse!“-Sprechchöre schallen durch die Halle. 8.775 Zuschauer. Wird ein harter Arbeitsstag.
Weil „C-12-8″s fundierte Schiedsrichter-Kritik beim Schiedrichter-Team wegen des pausenlosen Lärms aus Trommeln und Geschrei auf taube Ohren stößt, und weil der Schiri den Experten in Block C weder sieht, hört noch beachtet, verleiht der geächtete Fachmann in Reihe 12 seinen Forderungen nach mehr Gerechtigkeit verbal noch mehr Nachdruck und Lautstärke: „Schiiieber“ schreit’s aus ihm heraus. Er springt, hüpft, gestikuliert, schimpft, gestikuliert, tobt wie Rumpelstilzchen, speiht, spuckt Gift und Galle.
ENDLICH! DA ist er sind sie, der Hass die Emotionen, den die ich vom Fußball kenne. Handball gefällt mir. Genau mein Sport. Ich komme wieder.
Mitte erste Halbzeit, Überzahl Gastmannschaft. Mein Spielanalyse verlagert sich immer mehr auf „C-12-8“. Es ist wie bei einem Autobahnunfall: Man weiß, man soll und darf nicht hingucken, macht’s aber trotzdem.
„C-12-8“ hat sich inzwischen mit seinen zwei Sitznachbarn verbündet, eine fuchsteufelswilde Allianz geschmiedet. Die drei Mitte-40-Männer wehren sich gegen die vermeintliche Ungerechtigkeit der vermeintlich parteiischen Unparteiischen mit allen Kräften, werfen sich die verbalen Bälle und dem Schiri-Team die imaginären Fäuste zu. Man könnte auch sagen: Die drei Männer – Achtung, kommt flach – „lassen mal so richtig den Fuchs (aus dem Bau) raus“. Doch ein Schrittfehler jagt (wie bei auf dem Spielfeld) den nächsten.
Die drei Block-C-Reihe-12-Experten lassen sich frustriert und resigniert in ihre Sitze nieder – nicht, ohne alle benachbarten Zuschauer in ihr fachberlinerisches Handball-Vokabular einzuweihen. „Schieber“, „Pfeiffe“, „zwäe Minuuden!“, „Schiiiieboor“, „Follidiot“, „Zeeiiiidspüüüül!“, „Schiiiieebaaa!“.
Sie nerven wie die Sau, aber irgendwie unterhalten sie mich. Ich sach‘ doch, wie Autounfälle.
Halbzeit. 7:12.
Pausenmusik. Der Wolf. Im Fuchsbau! Gibts doch gar nicht.
Der Rhythmus, wo jeder mit muss
Die zweite Halbzeit läuft wenige Sekunden. Der verhinderte Entertainer am Mikrofon gibt den Fans Nachhilfe im Grundkurs „Stimmung machen“. Er beginnt mit dem einfachsten: „Jetzt in die Hände klatschen!“ Dann appeliert er ein zweites Mal an das Taktgefühl der Zuschauer: „Jetzt die Füße auf den Boden stampfen!“ Der Anspruch steigt, der Mann aus den Boxen fordert: „Die Hände bleiben oben.“
Damit auch der letzte Depp versteht, was zu tun ist, um seinen letzten Rest Stolz und Selbstbestimmung dem durchkommerzialisierten Ablauf eines Profihandballspiels unter den Fittichen geifernder Sponsoren unterzuordnen und sich dem ultimativ-debilen Gruppenzwang zu opfern, steigert der Stadionsprecher die nicht auszuhaltende Spannung bis zum Höhepunkt und verkündet: „Jetzt die Melodieeee!“ Und dann kommt sie, die „Melodie“: Guetta-Beats. Was macht eigentlich Robin Schulz?
Die Berliner Cheerleader haben sich umgezogen: Fortan räkeln sie sich ein einem Regenbogen-Glitzer-Fummel statt in Fuchsjagd-Waldgrün. Mimik, Bewegungsablauf und Farbe der Glitzer-Puschel (silber) bleiben.
„Fotze! Fotze!“-Sprechchöre aus dem „Figgse“-Fanblock. JETZT wird’s vulgär.
Block-C-Reihe-12-Experte auf Sitz 8 hat sich aus seiner Resignation befreit, lässt die Block-C-Reihen 1-20 und den Familienblock an seinem (in Nuancen) erweiterten Fachwissen teilhaben, holt sabbernd mit Bierbecher in der linken Hand zum ultimativen Rundumschlag gegen die Allianz aus Verschwörern, Betrügern und Dilettanten aus dem Profisport aus:
„Schieeeeeeebaaaaaaa!“, blöckt der Mann mit dem verräterischen Bauchansatz gen Spielfeld. Und irgendwo im Frankfurter Stadtwald erbricht sich ein Fan von Eintracht Frankfurt beim Gedanken an Peter Gagelmann.

Die Heimmansschaft hat einen guten Lauf. Drei Tore in Folge. Das Publikum rastet aus. Heißt: klatschpappt, trommelt und jault.
Dass Berlin trotzdem uneinholbar hinten liegt – egal. Die lustigen Stimmungsgehilfen aus Pappe müssen ja eine Daseinsberechtigung haben.
Erneut ein Tor für die Heim-Sieben. Die vom Fußball gewohnte Bierdusche aus dem Stehblock bleibt jedoch aus. Enttäuscht zücke ich mein Smartphone und tweete mir dieses Unding von der Seele. Keinem gefällt das. follow me @twitter/awo_wolf
Fünf Minuten vor Schluss, 17:25. Fest steht: Berlin wird verlieren. Unser Lieblingsexperte in Reihe 12 setzt zum finalen Resümee des Spiels an, seziert jeden einzelnen Spieler der Heimmanschaft verbal. Darauf hat er sich wahrscheinlich zwei Wochen gefreut und vorbereitet. Wild mit seinen Armen fuchtelnd und Körperflüssigkeiten verteilend, überliefert er seinem Sitznachbarn und geschätzt 125 weiteren Menschen im näheren Umkreis – mehr oder weniger ungefragt, aber umso pointierter – die aus Berliner Sicht einzig treffende, auf den Punkt gebrachte Spielanalyse: „Scheiße!“
Mit dem Schlusspfiff darf Weltmeister-Star-Torwart Andreas Wolf (mit zwei „f“) noch einmal zeigen, warum er ein Weltmeister-Star-Torwart ist. Hält den Siebenmeter. Einfach so. Als wäre es ein Elfmeter. Gibt’s doch gar nicht.
Die Schlusssirene ertönt, geht aber im fairen Publikums-Klatschpappen-Tröten-Geklatsche unter. Die „Füchse Berlin“ – bis vor dem Spiel punktverlustfreier Spitzenreiter – verlieren gegen Rekordmeister THW Kiel – bis vor dem Spiel Rangzweiter – deutlich, 18:26.
Findige Werbe-Experten haben dem THW Kiel einst den vermarktungstechnisch spitzfindigen Beinamen „Die Löwen“ verpasst. Um diesem genialen Marketing-Schachzug gebührend Tribut zu zollen, folgt zum Abschluss meines Blogberichts eine unvermeidbar-vohrhersehbare, uninspirierte, überflüssige, krampfhaft pseudo-lustige Sportberichterstattungsfloskel, um besagtem Bericht die Schaumkrone der redaktionellen Wortspiel-Schöpfung aufzusetzen: „Figgse! Fotze! – Heißer Tanz im Fuchsbau. Wolff im Löwenpelz gibt erlegten Füchsen den Rest.“
Alle Inhalte dieses Berichts – Text, Fotos, Videos – gehen auf meine Kappe. Ausnahme: Der eingebettete YouTube-Clip „lustige Handballvideos“. Das heißt, bis auf den fremden Clip liegen die Urheberrechte aller Fotos und Videos bei mir. Wer trotzdem nicht lassen kann, die hier veröffentlichten Inhalte unrechtmäßig zu kopieren oder zu vervielfältigen, kann das von mir aus ungerne tun – sollte sich dabei aber nicht erwischen lassen.
Im nächsten, zweiten, Teil meiner Blog-Serie: Besuch in der Mercedes Benz-Arena bei den „Eisbären Berlin“, dem deutschen Eishockey-Rekordmeister.
2 Gedanken zu “„Figgse! Figgse!“”