Serie: Berliner Leistungssport. Teil 3: Basketball. Ein Besuch bei „ALBA“ Berlin.
- Datum: Samstag, 8. Oktober 2016
- Ort: Mercedes Benz-Arena, Berlin-Friedrichshain
- Spielklasse: 1 (Bundesliga)
Mein Besuchsmarathon zu Profisportspielen in Berlin brachte mich binnen zwei Tage zweimal in die Mercedes Benz-Arena. Nach dem vorabendlichen Stelldichein beim Heimspiel des Eishockeyvereins „Eisbären“, freute ich mich auf meinen dritten Premieren-Stadionbesuch in Berlin binnen einer Woche. Diesmal Basketball, bei Rekordmeister „ALBA“ Berlin.
Unten hinterm Eingang, im Foyer, neben Rolltreppen, die zehn Meter nach oben zum Unterrang führen, verkauft das Verkaufsteam der Hausherren durchweg zweckmäßiges und dringend benötigtes Merchandise – auf dem Wühltisch zu Schnäppchenpreisen.
Das letzte Mal sah ich derart viele Muttis an einem Wühltisch beim Sommerschlussverkauf 1996 im „Woolworth“ Frankfurt-Höchst.
„Bis zu 80% Rabatt“, wird der Stadionsprecher später in der Halle dieses „unschlagbare, nur kurzfristig vorhandene Angebot“ mindestens ein weiteres Mal anpreisen.
Grund des (nur auf den ersten, unkritischen Blick) selbstlosen Marketing-Vorstoßes des Mehrzweckhallenmieters: Das 25. Jahr der Partnerschaft zwischen dem Basketballträgerverein und Namensgeber „Alba“ (ein Recycling-Unternehmen. Hättet ihr’s gewusst?).
Apropos Mehrzweckhalle: Für deutschen Bundesliga-Basketball ist die Arena eine Nummer bzw. rund ein Drittel zu groß. Obwohl der Oberrang mit schwarzen Stoffwänden verdeckt wurde – womöglich um den Schein zu suggerieren, die Halle wäre gefüllter als sie ist – bleiben viele Plätze leer.
Für jene zahlenden Kunden, die trotzdem da waren, hatte sich die Marketing-Abteilung etwas kreatives ausgedacht, was beim Publikum gut ankam: Durch den stimmungsleerren Luftraum in der spärlich besuchten Halle kreiste im Abstand von mehreren Minuten ein Mini-Zeppelin. Seine Aufgabe: Werbeträger.
[use clickbait here] Was der Zeppelin später tat (weiter unten im Text), sollte mich sprachlos machen…
Das kleine 1mal1 des Fan-Daseins
Der Stadionsprecher erklärt den Zuschauern, wie sie die Spielernamen der „Starting Five“ (fünf Spieler der Startformation) mitbrüllen sollen. Dazu gibt der Mann am Mikrofon den Ticketzahlern praktischerweise folgenden Tipp: „Wer die Nachnamen nicht kennt, sie stehen oben am Anzeigewürfel.“
Die Nachnamen der Spieler höre bzw. lese ich (elender Event-Fan! #ScheissTribuene) heute zum ersten Mal, blicke trotzdem nicht nach oben zum Würfel, sondern um mich herum:
Touristen und Familien, die nach oben auf den Anzeigewürfel blicken und irgendetwas ihnen fremdes nachbrüllen, was ihnen ein Fremder vorgibt tun zu sollen. Befremdlich. Ich fremdel.
Aufwärmprogramm. So haben wir das früher auf dem Schulhof auch immer gemacht. Wie die ganz Großen. Wie am Schnürchen.
Das Spiel hat begonnen: Frankfurt ist in den ersten fünf Minuten ein angenehmer Gast, wirft keinen Punkt, überlässt jeden Ball freundlich den Hausherren. Die können dann gar nicht anders, als ab und zu auch mal in den Korb zu werfen.
Drei Minuten später hat Frankfurt aus einem 0:7 ein 10:7 gemacht. Wie’s dazu kam, habe ich nicht mitbekommen. Denn:
Unabhängig vom Spielverlauf, Spielstand und von den Darbietingen der Protagonisten, ergötzt sich das Publikum an Klatschpappen, die vor dem Spiel auf jeden Sitz gelegt worden waren. Das ist laut und lenkt ab.
Plötzlich taucht unter dem Hallendach wieder der ominöse Zeppelin auf, schwebt augenscheinlich orientierungslos über die Sitz- und Stehblöcke im Fanbereich der Heimmannschaft. Am Bauch des Zeppelins hängt ein gelbes „Alba“-Leibchen.
Der Stadionsprecher erklärt, was es damit auf sich hat – und animiert alle Anwesenden in der Halle, an folgendem Spiel teilzunehmen, das aus einer Aufgabe besteht: Krach machen. Der Zeppelin ist ferngesteuert und schwebt dorthin, wo die Zuschauer am meisten lärmen. Ich (müde, teilnahmslos und auf Standby-Modus infolge einer langen Partynacht) ahne: Des könnt heut unangenehm werden.
Erinnerungen an den SSV 1996 im „Woolworth“ Frankfurt-Höchst
Der Klatschpappen-Lärmpegel um mich herum schnellt in die Höhe – ergänzt durch Geschrei. Erstaunlich, wie laut neben Kindern auch Erwachsene alle Hemmungen fallen lassen können, wenn sie materielle Besitztümer im vermeintlich unschlagbaren Preis-Leistungsverhältnis wittern.
Als Supporter der Gastmannschaft lässt mich das Treiben um einen gelben Fetzen Textil mit Werbeaufdruck eines Kompostierungsunternehmens kalt. (Hinge Skyliners-Merchandiese am Balon, hätte ich mich natürlich auch zum Affen gemacht.)
Kraft- und emotionslos nippe ich an meiner Apfelsaftschorle – und tagträume, ich hielte einen Becher mit weniger Schorle, dafür mehr Äppler in der Hand.
Apropos kleinster gemeinsamer Nenner: Die Schiris tragen lange Stoffhosen, sehen aus wie Kellner; untenrum Sneaker mit drei Streifen. Gewöhnungsbedürftiger Style.
Den SWAG hat diesen Abend unangefochten ein anderer: der „Alba“-Spieler mit der Nummer #23, Dominique Johnson. In einer Spielunterbrechung schnappt er sich den Wischmopp eines zum wischmoppen abkommandierten Jungen hinter der Werbebande – und nimmt dem verdutzten Jungen die Arbeit ab, schrubbt selbst den Boden. Fieses Mobbing, aber SO wird man Publikumsliebling!
Das Spektakel nimmt Fahrt auf, Schlag auf Schlag, es folgt der 2. Höhepunkt: Ein Pfeiffkonzertchen (nach einem Allerweltsfoul von „Alba“, das die Berliner Zuschauer zu unrecht den Frankfurtern und dem Schiedsrichter anlasten). Ja, richtig gelesen, „Höhepunkt“.
Nun, völlig zusammenhangslos, ein Meme, was nicht zum Spiel passt, trotzdem unglaublich lustig ist. Irgendwo im Bericht wollte ich es unterbringen. Un-be-dingt.
21. Spielminute: Der Zeppelin wirft ein blaues „Alba“-Leibchen ab.
Zum Spiel im zweiten Viertel: Erneut verpennt Frankfurt den Beginn, lässt Berlin auf fünf Punkte wegziehen. Erneut kommt Frankfurt zurück und dreht die Partie. Kurz: siehe Spielverlauf 1. Viertel.
Blick nach links: ein Hauch von Prostitution.
Blick nach rechts: ein Hauch von … Früh übt sich.
Dann wird’s herzallerliebst-putzig. Die „ALBAmbinis“ choreografieren mit allen vieren.
2,9 Sekunden vor der Halbzeitpause dürfen auch die Großen ran. Zu „Welcome to the Jungle“ beräkeln die sehr beweglichen „Alba Dancers“ den Parkettboden.
… und irgendwo im australischen Dschungel denkt sich ein alter, lüsterner Grieche nach 12 Jahren Gefangenschaft: „Holt mich hier raus!“
Zwei Viertel sind vorbei. Oder wie man in jeder anderen Sportart sagt: Halbzeit.
Zeit für ein Video.
Zweiviertelpause-Schlender-Spaziergang durch die Wohlfühl-Konsum-Zone außerhalb des Innenraums. Erkenntnis des Tages: An den Imbisständen gibt’s sogar Pizza.
Der circa zehnjährige Omar direkt zu meiner Linken springt, grölt, schreit und wackelt am Sitz wie ein verhaltensgestörter Rütli-Schüler. Kategorie „Aufmerksamkeitsdefizit, kriegt zuhause zu wenig Auslauf.“
Ich gönne ihm seinen infantilen Spaß, dem Arsch!
Eine Zwischenbemerkung zur Playlist des Stadionfunks: annehmbar, weil recht bunt durchmischt. Nicht nur David Guetta oder LMFAO, sondern auch HipHop-Sounds; mega authentisch hier. In dieser Mehrzweckhalle. Nahe der Berliner Bronx. Fehlen nur noch die brennenden Mülltonnen.
Omars ignorant um sich fuchtelnden Arme führen mir an Ohren und Haaren vor Augen, warum Klatschpappen immer böse und Kinder in Gruppen meistens nervig sind. Zeitgleich wird mir bewusst, weshalb ich Fussball so mag. Da gibt’s keene Klatschpappen. Und nervige Kinder werden gebierbechert.
Spielverlauf 3. Viertel: siehe Spielverlauf 1. Viertel und Spielverlauf 2. Viertel
Langsam nerven die sechs halbstarken Jungs um mich herum im Block. Ja, mittlerweile sechs. Denn Omar hat vier weitere Freunde rechtzeitig zu Beginn der 2. Halbzeit auf die leeren Sitze vor und hinter mich geschleust.
Trotzdem scheint der Omar-Clan unvollständig. Lautstark und minutenlang rufen die sechs Jungs mit winkenden Händen und hochgestreckten Armen nach rechts in den ALBA-Steh-Fanblock. Sie suchen weitere Freunde. Ich denke mir nur: Bleibt ja da unten! – sonst werd ich gewöhnlich.
Einzig meine gute Kinderstube verbietet mir, Omar zu klatschpappen. „Ich war auch mal jung und bestimmt auch so“, versuche ich mir das pubertäre Leid um mich herum schönzureden. Kurzes Abdriften in rationale Gedanken. Erkenntnis: Nee, doch nicht.
Frankfurts Mahir Agva – Typ: tätowierter, serbo-kroatischer „Gagos“-Türsteher – monsterblockt sich binnen weniger Minuten zweimal spektakulär in die „Hall of Respect“ aller Zuschauer vor Ort und jenen hinter den Bildschirmen der WebTV-Live-Übertragung. Agva, du Maschine!#
Sometimes life dunks you
46. Spielminute: Der Zeppelin wirft ein gelbes „Alba“-Leibchen ab. Infantiler Lärm.
Um seine Fan-Utensilie möglichst nutzungsoptimiert verwenden zu können, holt Omar mit seinen Armen weeeeit aus und klatschpappt was schmächtige Ellbogen eines rund Zehnjährigen hergeben. Der resultierende, um sich wehende Windstoß streichelt hauchzart das glänzende, volle, prächtige Haupthaar seines rechten Sitznachbarn.
Mein genervter „Wenn Blicke töten könnten“-Blick bleibt unerwidert, weil von Omar unbeachtet. Plan B: Kopfkino.
Die Cretins um mich herum lassen ihrem kindlichen Humor weiter freien Lauf. Nächste Stufe: Auf Französisch rufen sie ständig „lustige“ Kommentare aufs Feld – meist dann, wenn alle Zuschauer in der Halle aus Fairness ruhig sind, etwa bei Freiwürfen des eigenen Teams.
Dass kein Spieler auf dem Feld ohrenscheinlich Französisch versteht oder auf die Rufe reagiert, scheint die verhinderten Nachwuchskomiker um mich herum erst recht anzuspornen. Ich wünsche mir Louis de Funès herbei. Doch in meinem kognitiven Wahrnehmungsapparat öffnet sich eine Schublade:
Kurz vor Schluss: Berlins bosnischer, zwei-Meter-zehn Bewegungslegastheniker „Power-Forward“ mit der Rückennummer 9, Elmen Kikanovic, zieht sich den Spott einiger Zuschauer auf der Hauptribüne zu.
Ein Hänfling lästert aus sicherer Entfernung: „Der Neuner hat mittlerweile mehr Freiwürfe vergeben als Punkte gemacht.“ Faktisch nicht ganz korrekt, trotzdem irgendwie richtig.
Deeʒa-Wüüh
Spielverlauf 4. Viertel: siehe Spielverlauf 1. Viertel und Spielverlauf 2. Viertel und Spielverlauf 3. Viertel.
Frankfurt gewinnt (78:70). Den zahlenden Kunden scheints egal, sie klatschpappen sich den Rest-Verstand aus ihren FastFood-gesättigten, Merchandise-gekleideten Körpern.
Ich fotografier sinnlos die Leinwand, wo alle Nachnamen stehen, freu mich übers Ergebnis und ärger mich über die Fotoqualität meines „Samsung“-Smartphones.
Auf dem Heimweg – rund 5 km vom Spielort entfernt war ich soeben aus der Tram gestiegen – höre ich ein Feuerwerk. Doch ich seh’s nicht. Eichen und Pappeln verdecken die Sicht auf die Geräuschquelle.
Wir schreiben das Jahr 2016. Als ich das Feuerwerk erblicke, zücke ich natürlich SOFORT meine Smartphone-Kamera, angetrieben vom tief in mir sitzenden Wunsch, Bedürfnis und Verlangen nach absoluter Anerkennung und ungeteilter Aufmerksamkeit um jeden Preis.
Die Community dürstet
Ich muss soziale Benefits generieren, mein Ich in sozialen Online-Netzwerken profilieren, mein selbstzweifelndes Über-Ich mit Oberflächlichkeiten kaschieren. Je schneller und bunter und lauter und krasser, desto besser. Hashtag-Bingo, Selfie-Storytelling.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich bereits alles: die Like- und Share-Zahlen in astronomische Höhen schnellen, mich unaufhaltsam aufsteigen im Prestige-Ranking der erbarmungslos-aufmerksamkeitsgeilen, vermeintlich Trend- und Agenda-settenden Snapchat–Instagram–Facebook–Periscope-Community.
Vor lauter freudiger Erregung über meinen bevorstehenden, wohl rund vier Minuten währenden Moment der absoluten sozialen Anerkennung durch ein oberflächlich interessiertes, öffentliches Tribunal (Social Media-User), vergesse ich, dass ein Feuerwerk endlich ist und mir nur begrenzt Zeit bleibt, den perfekten Bildausschnitt zu wählen, bevor ich auf den „Aufnahme“-Knopf drücke. #Webfail
Während ich mich frage, warum am Fußballfreien Tag im Fußballstadion ein Feuerwerk abbrennt, läuft mir bereits die Antwort entgegen: in orange-purpun-farbenen Football-Trikots.
Wenn nicht der Schriftzug „Frankfurt Galaxy“ auf den Fantrikots, spätestens die lieblichen Klänge aus den Kehlen hessischer Sangesbrüder („Hurra, hurra! Die Frankfurter sind da!“) hätten mir klar gemacht: Offenbar hatten die „galaktischen“ Profi-Footballer aus der Mainmetropole am gleichen Abend den Jahn-Sportpark in meiner Nachbarschaft beehrt, um gegen Eier zu treten.
Als nach Ende des Feuerwerks die ausgelutschteste Mutter aller Stadionrocksongs aus den Boxen des Stadions kriecht („Weeeee are sse Schämmpjens!“) und den dunkelblauen Berliner Abendhimmel mit bedeutungsschwangerer Standortbestimmungsprosa erhellt, wird mir (ja nee, is) klar: Berlin mag „die“ (Sport)hauptstadt sein. Siegerhauptstadt ist Frankfurt. #AllesAußerFrankfurtIstScheiße