Kritik zum Musikalbum „one more light“ der US-Rockband „Linkin Park“
Ohne den Tod von Sänger Chester Bennington hätte ich nicht reingehört in das neue Album – zu vernichtend waren die meisten Kritiken von Medien und vielen langjährigen Fans der Band. Eine bittersüße Ironie des tragischen Schicksals.
Am 19. Mai 2017 veröffentlichen „Linkin Park“ ihr siebtes Studio-Album „one more light“. Rund zwei Monate später, am 20. Juli, erhängt sich Bandsänger Chester Bennington (41) – am Geburtstag seines Freundes Chris Cornell (52, „Soundgarden“, „Audioslave“) , der sich einen Tag nach dem Release von „one more light“ ebenfalls erhängt hatte.
Millionen Musikfans weltweit trauern um zwei herausragende Musiker und Sänger.
Die Meinungen und Kritiken der Musikjournalie und Album-Käufer in Deutschland waren größtenteils vernichtend ausgefallen:
„Zu poppig“, „Begräbnis einer einst kreativen Band„, „aalglatt produzierter weichgespülter Radio-Pop“ und so weiter.
In gewisser Weise stimmt das. Ein Beleg: die „featuring“-Gästeliste des Albums.
Aber – jetzt die Überraschung: Dieses durchweg melodische, seichte, zu 90% vermeintlich „kantenlose“ Radiogedudel klingt verdammt gelungen.
Radio-Pop vom Feinsten
Bin keine 15 oder Anfang 20 mehr, als ich Linkin Park vor allem wegen des rockigen Stils schätzen lernte. Bin jetzt 30, mag immer noch in erster Linie die Klassiker der Band.
Aber „One more light“ hat mich überzeugt. Mit jedem seiner zehn Songs (Spielzeit: 35 Minuten).
Einzig die hochgepitchten Voice-Samples in drei Liedern („Nobody can save me“, „say goodbye“ und sehr aufdringlich bei „sorry for now“) hätte es wirklich nicht gebraucht – Fremdscham-Pop.
Linkin Park als Pop-Band: unerwartet gut
An die Ewig-Gestrigen und „Das ist nicht mehr Linkin Park“-Nörgler: Doch, das sind Linkin Park. Die Bandmitglieder sind halt nicht mehr Anfang 20, haben viele Jahre Lebenserfahrung gesammelt seit „Hybrid Theory“ und „Meteora“. Chester (41) zum Beispiel hinterlässt sechs Kinder.

Gretchenfrage: Wer hat das Recht, Musikern das Recht abzusprechen, dass sie das veröffentlichen, was sie veröffentlichen wollen? Eben: niemand. Auch kein Fan.
Keiner muss dieses Album kaufen. Wer’s tut, bekommt ’ne runde Sache.
Volle Punktzahl?! Ja – dafür, dass ich mir das Album ohne „skip“ anhören kann – nach wenigen Durchläufen in Dauerschleife (wie einst bei „Hybrid Theory“, „Meteora“ und „Minutes to Midnight“).
Hätte nie gedacht, dass mir Linkin Park als Popband gefällt.
Nachdenklich, melancholisch. Depressiv?
Durch Benningtons Tod bekommen die Songs, vor allem die Texte, eine besondere Note.
Beispiel: Das Album, die ersten Zeilen beginnen mit den von Chester gesungenen Worten „I am dancing with my daemons“. Der Songtitel dazu: „Nobody can save me“.
Was mich auch zum Kauf bewegt hat: Nach Chesters Tod eventuell in den Texten etwas heraushören zu können, was auf seine jüngste psychische Verfassung schließen lässt.
Im Nachhinein lässt sich vieles hinein interpretieren in die Texte (unter anderem bei „battle symphony“, „heavy“ oder „one more light“).
Fakt ist: Nicht alle Songs stammen aus der Feder von Bennington – laut Credits im Booklet nur zwei („heavy“ und „halfway right“).
„who cares when someones time runs out?“
Fast alle Texte kommen nachdenklich und melancholisch daher. Kostprobe: „who cares if one more light goes out in the sky of a million stars?“ („one more light“).
Viele Songtexte lassen tief blicken in das Seelenleben von Rockstars um die 40, die 20 Jahre im Geschäft sind. Teils sind die Lyrics sehr persönlich. Etwa, wenn Bennington davon singt, wie sich das lyrische Ich (Bennington?) an lehrreiche Worte seiner Mutter erinnert („sharp edges“).
Und nahezu alle Texte lassen Raum für Interpretationen.
Eine Konstante wie auf den vorigen Alben: Mit seiner großartigen Stimme wirkt Bennington omnipräsent, in den Mittelpunkt gerückt.
Man könnte meinen, es handelt sich um ein Solo-Abum von ihm, diesmal als Popsänger – würde nicht Bandkollege Shinoda in zwei Songs („Invisible“, „sorry for now“) den Frontsänger geben.
Chesters Präsenz, die Texte, die nachdenkliche Grundstimmung fast aller Songs: So gesehen ist das Album wohl so etwas wie Benningtons Vermächtnis – wenn auch (wahrscheinlich) unbeabsichtigt, in einem tragischen Zusammenhang.
Wertung: 5/5
Ein runder, stimmungsvoller Abschluss des Albums mit „Sharp edges“. Gänsehaut.
Ein würdiger Abgang von Chester Bennington. „Shocked and heartbroken. But it’s true“.
Anmerkung: Wer gefährdet ist, sich das Leben zu nehmen, kann Sie sich helfen lassen: etwa bei der Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter 0800 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 sind Berater rund um die Uhr erreichbar. Anrufe sind anonym möglich.
Hilfe für Angehörige und Betroffene bietet auch der Bundesverband der „Angehörigen psychisch Kranker“ per Telefon- und E-Mail-Beratung: Unter 01805 950 951, 0228 71002424 und über seelefon@psychiatrie.de können die Berater kontaktiert werden.
Direkte Anlaufstellen sind auch Hausärzte und Ambulanzen in psychiatrischen Kliniken, die spezialisiert sind auf das Thema.